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Zirkus ohne Manege

Ein Produktionsbericht von Sascha Bruhn
Im Februar 1999 saß ich mit meinem Freund und Kollegen Jens Junker zusammen und wir ersonnen einen Anlass, Filmmaterial zu belichten. Filmmaterial konnte in unserer finanziellen Lage nur Super 8 bedeuten. Auch wollten wir uns nicht wirklich in Arbeit stürzen. Das Thema sollte an einem Tag abzudrehen sein. Mehr eine Fingerübung eben.
Der Kölner Karneval stand vor der Tür und drängte sich uns als Ereignis auf, bei dem man ohne große Mühe viele bunte Bilder drehen konnte.
Doch wollten wir nicht in der Boulevard-Magazin-Ecke landen und von Belanglosigkeiten erzählen.
Also bemühten wir den sozialkritischen Fundus:
"Besinnungslos gesoffene Kleinbürger die eine Woche lang Köln vollmüllen -lärmen und pinkeln, um danach zufrieden in ihren kleinkarierten Alltag zurückzusinken".
Immer noch Boulevard-Niveau.
Wollten wir schon aus einem Anlass seichten kollektiven Frohsinns eine pseudokritische Tränendrüsendrückernummer machen, so mussten wir schon auf’s Ganze gehen.
Nach dem bewährten Erpressungs-pädagogischen Schema "Du isst deinen Teller nicht leer und in Afrika verhungern die Kinder" formulierten wir:
"Ihr sauft euch zum Spaß auf asoziales Niveau und Die aus Verzweiflung trinken und in die Büsche pinkeln, haben von eurem Fest nichts weiter, als den zusätzlichen Dreck auf den Straßen, die ihr Zuhause sind."
Fantastisch! Was für ein Kitsch! Karneval aus Sicht eines Obdachlosen. Fühlte sich so ein Boulevard-Redakteur, wenn er die Grenzpfosten des schlechten Geschmacks einmal mehr in unberührtes Terrain schlug? Oder war es der Stoff, aus dem prämierte Dokumentarfilme sind?
Ein Obdachloser musste her und zwar schnell. Kaum noch eine Woche verblieb bis zum Rosenmontag, dem geplanten Drehtag.
Jens erzählte mir von einem sonderbaren Typen, den er in einer Kneipe getroffen hatte. Dieser behauptete Circusartist zu sein, sich aber auch sehr für Film zu interessieren. Jens beschrieb ihn als interessanten, intelligenten aber auch etwas versponnenen Kerl, der einen nicht gerade gepflegten Eindruck gemacht hatte. Mehr aus Höflichkeit habe er sich damals seine Adresse notiert.
"Adresse ist schlecht", räumte ich ein, "obdachlos wäre besser", doch angesichts der drängenden Zeit bat ich Jens, ein Treffen mit diesem Mann zu arrangieren.
Zwei Tage später saßen wir in einem Cafe und warteten auf "Charlie", so der Name mit dem er sich Jens vorgestellt hatte.
Überraschend pünktlich, eine innere Stimme aus dem Reich der Vorurteile flüsterte mir ein, wir würden vergeblich warten, erschienen zwei Figuren vor der Fensterfront: Charly mit alter schwarzer Jeans, ausgelatschten Turnschuhen, brauner Lederjacke und einer mit Walt Disney-Stickern geschmückten Bakenmütze auf dem Kopf. Lange strubblige Haare quollen unter ihr hervor und gingen fließend in einen zerzausten Rauschbart über. Seine Begleiterin Heidi präsentierte sich im schlichten Altkleider-Look. Auffallend ihr dichter schwarzer Lockenschopf und zwei farblich identische Raucherfinger zwischen denen ein kurzer Stumpen glühte.
Jens winkte sie zu uns herein, doch Charly begann unentschlossen von einem Fuß auf den anderen zu treten und verlegen in seinen beiden schmutzigen Jutetaschen zu kramen, die er bei sich trug. Schließlich standen wir auf gingen zu ihnen hinaus um einander zu begrüßen. Wir baten sie hereinzukommen, um unser vorhaben in Ruhe und bei einer Tasse Kaffe zu besprechen. Zögerlich folgten sie uns endlich. Wir waren kaum wieder an unserem Tisch angekommen, da stürzte uns eine Bedienung entgegen und erklärte uns mit verhaltender Aufregung, dass "man" "die beiden" hier nicht bedienen könnte. Noch ehe ich irgend etwas erwidern konnte, hatten Charly und Heidi schon auf dem Fuß kehrt gemacht und wortlos den Rückzug angetreten.
Auch durch die folgende sinnlose Diskussion mit der Bedienung konnte ich mich nicht der leisen Ahnung entledigen, dass dieser Vorfall allein die bodenlose Naivität strafte, der wir uns in unserem kreativen Leichtsinn hingegeben hatten.
Wir gingen zu einem China-Imbiss und luden sie, teils aus schlechtem Gewissen, teils aus Kalkül, zum Essen ein.
In blumigen Worten beschrieben wir unsere Filmidee, natürlich mit der Betonung, sie hauptsächlich zum Wohle aller Geknechteten zu realisieren. Charly hörte sich mit ernster konzentrierter Miene unsere Ausführungen an, während er sich unendlich langsam einen Joint drehte.
Als wir fertig waren, warteten wir ungeduldig auf seine Reaktion (und den Joint) Vielsagend warf er seine Stirn in Falten und ließ seinen Blick in der Ferne schweifen. Dann begann er ausführlich über seine Liebe zum Zirkus und zur Seefahrt zu referieren. Dies geschah mit einer Vielzahl von bedeutungsschwangeren Denkpausen und unter häufigem Abschweifen in vollkommen andere Themen, wie Politik, Religion oder Cannabis als medizinisches Heilmittel- allein eine Reaktion auf unsere Filmidee blieb aus.
Ein Nachhaken unsererseits, löste stets dasselbe Reaktionsschema bei ihm aus: Tiefes Grübeln mit vielsagender Miene, dem weitere sonderbare Anekdoten von Gott und der Welt folgten. In der Zwischenzeit gingen einige Leckereien, viele Getränke (Charly und Heidi sind Antialkoholiker) und noch mehr Joints über den Tisch.
Heidi rauchte vor allem Kette. Sie sprach kaum aus eigener Motivation.
Während sich Charly regelmäßig in den Weiten seines Intellekts verlor, reagierte Heidi nur auf bestimmte Stichworte, die sie bei ihm aufschnappte. Sie antwortete jedoch in einer Weise, der eher ein eingefahrenes Schema zu Grunde lag, denn ein intellektuelles Verstehen:
Charly: "Es ist eine hohe Kunst, den traurigen Clown zu spielen".
Heidi: "Mir ist gar nicht nach spielen zu Mute".
Charly: "Die Politiker haben die Welt in eine gefährliche Situation manövriert." Heidi: "Ich habe dich in eine gefährliche Situation manövriert".
Diese unablässigen Einflüsterungen irritierten Charly derart, dass er meist seinen mühsam aufgenommenen Faden wieder verlor. Dann schimpfte er ernst aber behutsam mit Heidi, wie man mit einem kleinen Kind schimpft. Dies wiederum bestätigte Heidi in ihren meist selbst anklagenden Äußerungen. Und so wartete sie geduldig auf ein neues Stichwort, um den nächsten selbst bezichtigenden Kommentar zu formulieren.
All dies ließ es uns wenig wahrscheinlich erscheinen, dass wir mit ihnen arbeiten konnten.
Wir zahlten die stolze Rechnung und boten Charly an, sich bei uns zu melden, wenn er es sich überlegt hatte. Plötzlich begann er einzulenken, sagte, unsere Filmidee fände er prinzipiell gut. Als "Sportprofiartist" hätte er ein paar interessante Kunststücke für die Kamera auf Lager. Doch so ein Film, zumal über seine Person, sei eine ernste Angelegenheit und wolle in Ruhe durchdacht sein. Hier sei es doch recht gemütlich und bei einer Tasse Yasmintee und einem Joint würde man sich schon einig.
Mein schlechtes Gewissen war schlagartig verflogen, wähnte ich nun einen Mann vor mir, der unter dem Deckmäntelchen des zerstreuten mittellosen Professors systematisch die Situation nach seinen Vorteilen abklopfte. Darin stand er uns in nichts nach.
Nach insgesamt fünf Stunden waren wir uns endlich einig:
Etwaige Erlöse aus dem Film, sollten zu 51% an ihn und zu 49% an uns gehen. Überdies hatten wir für die Zeit der Zusammenarbeit für Verpflegung zu sorgen, worunter auch eine Grundversorgung mit "Medizin" fiel. Des Weiteren sollten auch kleine Einkäufe und Hilfestellungen bei Ämtergängen von uns erbracht werden.
Ich mochte Charly. Ich hielt ihn für einen grandiosen Selbstdarsteller, einen Exzentriker dem eine unfreiwillige Tragik-Komik anhaftete.
Zu Themen, die seine persönlichen, offensichtlich existenziellen Probleme berührten, zu allem was sich jenseits der kauzigen Fassade verbarg, schwieg er sich beharrlich aus. Unseren Vorschlag, den Film in seiner Notunterkunft zu beginnen, lehnte er Grundweg ab.
Es war uns klar, das mit ihm die polarisierende Mitleidsnummer nicht zu machen war, eher würde er den Spieß umdrehen und das Projekt nach Belieben zur Bühne seiner Selbstdarstellung umfunktionieren. Allem Anschein nach glaubte er, dass dieser Film eine Vielzahl seiner Probleme lösen würde.
Natürlich hatten wir ihm wieder und wieder eingebläut, dass wir mittelose Independentfilmer waren, gerade einmal das Geld für die Produktionskosten aufbringen könnten, und die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Film jemals eine müde Mark abwirft, nahe Null anzusiedeln seien.
Aber diese Ausführungen quittierte er stets mit dem selben müden Lächeln, dass uns bedeuten sollte: "Ihr Jungs mögt ja clever sein, aber so leicht macht man dem alten Captain Charly nichts vor"
Am nächsten Tag kaufte ich das Filmmaterial: fünfundzwanzig K40 Super8 Filme.
Als ich das viele Geld auf den Ladentisch legte, flüsterte mir wieder die Stimme aus dem Reich der Vorurteile zu. "Verlass dich lieber nicht auf die Verabredung mit diesem seltsamen Mann und sieh vorsichtshalber nach einer "zweiten Besetzung" um.
Also fuhr ich nach dem Einkaufen noch schnell zu einer großen Notaufnahmestelle für Obdachlose und stellte dem Dienst habenden Sozialarbeiter mein Anliegen vor.
Der musterte mich skeptisch und sagte, er glaube nicht, dass ich hier jemanden finden würde, der Lust habe, bei einem Film mitzumachen, aber ich sollte mich ruhig einmal umhören.
Was weißt Du schon", dachte ich mir, schließlich hatte gleich der "Erstbeste" mit dem, wir darüber sprachen, zugesagt.
Der Sozialarbeiter öffnete die Tür zu einem ca. 50m2 großen Raum, dessen hintere Wand sich im Zigarettenqualm verlor.Ca 15 Männer saßen an Tischen, einige schliefen, andere stierten aarpatisch ins Leere. Jemand hustete, eine der 15 Raucherlungen rasselte unregelmäßig vor sich hin, ansonsten Stille.
Plötzlich teilte ich die Einschätzung des Sozialarbeiters und adressiere die Frage demütig an mich selbst: Was weißt du schon?
Am nächsten Morgen trafen wir uns pünktlich um 10 Uhr in der Innenstadt. Charly war sichtlich guter Dinge. Wir standen in einer Seitenstraße, wo sich Pferde und Reiter für ihren Aufmarsch bereit hielten und Charly unterhielt sich mit einem Karnevalisten.
Ich hielt die Kamera auf diese Szene und belichtete die ersten Bilder des Films. Im gleichen Moment warf sich Charly in Pose und begann Späßchen mit dem Pferd zu machen. Als ihm nichts mehr einfiel sagte er "stopp" und winkte ab.
Das Schema für den gesamten Dreh war somit, wie befürchtet, etabliert:
Wir gingen ein Stück, Charly hatte vor dieser oder jenen Kulisse eine Idee, ein Späßchen oder ein Kunststück zum Besten zu geben, wies uns an, Ton und Kamera zu starten, wenn er bereit war und zu stoppen, wenn er fertig war. Aufnahmen von ihm oder Heidi, die wir von uns aus machen wollten, wiegelte er ab. Wir versuchten ein Interview mit ihm zu führen:
Über die erste Frage, wie er sich fühle, wenn er so durch den Karneval gehe, schwieg er sich eine Filmkassette lang aus. Eine zweite legten wir zum Thema Interview gar nicht erst nach.
Alles soff und blödelte vor sich hin und unser Vertreter der Geknechteten sonnte sich im Rampenlicht und hatte rein gar nichts am Karneval auszusetzen. Konzeptionell ein Desaster. Über die für uns interessanten Dinge sprach er nur, wenn weder Ton noch Kamera lief:
Er sei ein verkannter Künstler, dem viel Unrecht widerfahren ist, der genötigt wurde in einer sozial und hygienisch menschenunwürdigen Unterbringung zu hausen.
Mit unserer Cleverness und Geduld am Ende, versuchten wir es mit Hinterlist und führten ihn in ein Dilemma.
Wir bestätigten sein Potential als Künstler, doch gaben ihm zu bedenken, dass er womöglich die einmalige Chance verspiele, durch diesen Film auf das Unrecht aufmerksam zu machen, das ihm widerfahren sei. Falls das mit dem "Entdeckwerden" doch nicht auf Anhieb klappe, würde sich kein Mensch um ihn sorgen, weil alle glaubten, es gehe ihm sowieso blendend.
Und weil er ein Freund juristischer Phrasen war schlugen wir ihm vor, seine Unterkunft für die "Beweisaufnahme" zu dokumentieren.
Die Argumentation erschien ihm zwingend. Dementsprechend tief versank er in angestrengte Kontemplation...und tauchte mit einer gnadenlosen Retourkutsche von Bedingung wieder auf:
Wenn er sich auf einen Dreh in seiner Unterbringung einließe, sollten wir ihm nach Drehschluss das gesamte Filmmaterial überlassen.
Das war absurd! Kein Vorschlag, sondern eine Provokation. Der Tag war lang und mühsam, und das Ergebnis alles andere als zufrieden stellend und nun so etwas. Auf der anderen Seite wussten wir, dass wir im Falle eines Streits diesen Film für das Archiv gedreht hatten. Also ließen wir uns nichts anmerken und entgegneten ruhig, dass die Filme auf jeden Fall für die Entwicklung in die Schweiz geschickt werden müssten.
"Auf keinen Fall schicken!" warf er aufgeregt ein. Das Material sei zu brisant und dürfe nicht in die falschen Hände geraten. Wir müssten es gemeinsam und persönlich dorthin fahren, auch bei der Entwicklung wolle er anwesend sein.
In einem Geistesblitz entgegnete ich, dass das Filmmaterial selbst sei stumm, und somit für Dritte unbrauchbar sei.
"O.k.", gab er zurück, "dann behalte ich eben die Tonbänder".
Es war zu verzweifeln, doch blieb uns nichts anderes übrig als einzuwilligen.
Ich zweifelte nicht daran die Tonbänder wiederzubekommen, dafür versprach er sich viel zu viel von diesem Filmprojekt. Bis dahin wäre es immerhin ein großer Beweis unseres Vertrauens in ihn, vermutlich genau das, worum es ihm wirklich ging.
Wir machten uns auf den Weg zu seiner Notunterkunft in der Südstadt, einer ziemlich heruntergekommenen Mietskaserne aus den 50ern.
Seine Wohnung lag im Erdgeschoss. Trotzdem verging vom Öffnen der Haustür bis zum Öffnen der Wohnungstür eine gute dreiviertel Stunde. In dieser Zeit führte er uns seinen Stromzähler vor und machte uns ausgiebig mit seinem Nachbarn Jo-Jack bekannt.
Auf dem Weg zur Unterkunft hatte er noch erwähnt, dass seine Wohnung nicht so aufgeräumt sei." Meine auch nicht" beschwichtigte ich ihn beiläufig.
Doch nun öffnete er seine Wohnungstür und schenkte uns einen vollkommen gedankenleeren, ja einen erleuchteten Moment.
An der Stelle, wo wir ein unaufgeräumtes Zimmer erwartet hatten, blickten wir auf eine Landschaft aus Müll. Lediglich eine schmale Schneise, einem Schützengraben gleich, war noch begehbar und führte in einen zweiten Raum, in dem nur die obere Etage eines Stockbettes den Abfall überragte.
Wir erhielten natürlich erst einmal Drehverbot. Einen offiziellen Wortlaut für dieses, und einen vorteilhaften Bildausschnitt in diesem Szenario zu finden, war selbst für Chefzensor Charly keine einfache Aufgabe.
In der Zwischenzeit waren wir vom Filmteam ausreichend damit beschäftigt, unsere inneren Bilder, die wir uns von Charly gemacht hatten, zu aktualisieren.
Ich entdeckte einen Tisch. Ich stand zwar schon minutenlang davor aber ich hatte ihn wohl einfach nur für einen etwas höheren Müllhaufen gehalten. Fasziniert versuchte ich mir vorzustellen, wie der Müll auf dem Tisch Schicht für Schicht gewachsen war und wie ungeheuer detailreich er sich zusammensetzte. Ganzen unten, mit Kontakt zur Tischplatte würden vielleicht immer noch die Dinge liegen, die Charly am Einzugstag beiläufig aus seiner Tasche gekramt hatte. Wie viele verlorene Dopestückchen würde man hier wohl finden? Ich kam zu dem Schluss, dass es schlicht unmöglich sei, ein solches Szenario für einen fiktionalen Film von einem Requisiteur detailgetreu nachbilden zu lassen.
Charly war bereit zum Statement. Ich hatte von zwei sorgsam arrangierten Püppchen aufzuziehen, die er in seinem Statement mit sich und Heidi vergleichen wollte. Ich schwenkte auf ihn und schnitt ihn halbnahe in Bauchhöhe ab, sodass der Müll darunter gerade nicht mehr zu sehen war.
Das Statement selbst war wie erwartet in bester Politikermanier formuliert: wortreich und inhaltsarm.
Als nach 16 Stunden die letzte Klappe viel, war uns klar, dass aus dem, was wir hatten kein Film werden konnte. Außerdem war ich mir jetzt doch nicht mehr sicher, ob ich die Tonbänder wieder sehen würde. Eher wähnte ich sie auf nimmer Wiedersehen im Müll vermodern.
Einige Wochen später:
Das Filmmaterial war sehr schön. Unsere Rechnung war zumindest in dieser Hinsicht aufgegangen. Die vermeintlichen Unzulänglichkeiten des Super8- Materials, grobes Korn, steile Kontraste, unruhiger Bildstand usw. tauchten die Bilder in eine geheimnisvolle Aura und würden, da waren wir uns sicher, viele der inhaltlichen Schwächen in ein stimmungsvolleres Licht rücken.
"Inhaltliche Schwächen" ist vielleicht etwas zu optimistisch ausgedrückt. Eigentlich konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht mal von Inhalt oder Handlung sprechen.
Alles was man sah, waren zwei seltsame Gestalten unter vielen seltsamen Gestalten im Kölner Karneval, die nachts, gegen Ende des Films, in ein düsteres Haus gingen.
Natürlich war es in dieser Situation verlockend, den ganzen Film mit Kommentar vollzutexten, doch wir fühlten, dass dieses Projekt längst nicht mehr die kleine Fingerübung war, als die es begonnen hatte. Es ging weder um den Kölner Karneval aus "Pennerperspektive" noch um ein rein filmisches Problem überhaupt.
Wir waren in etwas geraten, dessen Tragweite wir damals nicht einmal ansatzweise überblickten
Schon bei dem Gedanken an ein weiteres Treffen mit Charly und Heidi lagen unsere Nerven bloß. Aber Charly hatte vorgesorgt. Allein um der lieben Tonbänder willen mussten wir den Kontakt halten. Zudem war klar, dass wir ohne zusätzliches Material diesen Film wegschmeißen konnten. Karneval war vorbei, das einzige was wir nachträglich anfertigen konnten, waren Tonaufnahmen.
Charly freute sich über den neuen Arbeitstag und sprach davon, dass wir noch viele Filme zusammen machen könnten. Mir lief es kalt den Rücken herunter bei diesem Gedanken.
Als wir sie am verabredeten Tag abholten, hatten wir die Zeit für den Weg von Charlys zu Jens Wohnung, der normalerweise in 20 Minuten zu schaffen war, mit ca. drei Stunden veranschlagt.
Allein eine gute halbe Stunde dauerte es, bis Charly, seine Sieben Sachen zusammen hatte, inklusive, uns viel ein Stein vom Herzen, die Tonbänder. Als notorischer Schlüsselverleger, der ich selber bin, hatte ich für derartige Startschwierigkeiten vollstes Verständnis.
Wir hatten an jenem Tag keinen Zutritt zu seiner Wohnung. Und so warteten wir auf dem Hausflur. Auf einmal drang leises Wimmern aus seiner Wohnung das sich mit explosivem Gebrüll abwechselte. Sofort entstand in mir das Bild eines verwundeten Cowboys dem man die abgebrochene Pfeilspitze mit einem Messer aus der Brust schnitt und die Wunde hinterher mit Schießpulver ausbrannte. Die Türe sprang auf und Charly schoss unter unbändigem Gebrüll an uns vorbei ins Freie. Dort ließ er sich lauthals und unter übelsten Flüchen über verschiedene Kölner Behörden aus, über das deutsche Rechtssystem und über Deutschland an sich, das er in allernächster Zeit verlassen werde.
So schnell wie er sich aufgeregt hatte beruhigte er sich auch wieder und wir konnten endlich aufbrechen.
Als ich ihn später fragte, was denn der Stein des Anstoßes gewesen war, antwortete er: "Ich habe mein Dope nicht gefunden".
Mit unserer Zeitplanung lagen wir goldrichtig. Der Weg führte uns vorbei an Cafes, Supermärkten und Naturkostläden und jedes Mal, wenn wir es ein bisschen eiliger hatten, als er, oder ihm "medizinisch" Einhalt gebieten wollten, fühlte er sich plötzlich unpässlich und wusste nicht mehr so recht, ob er den Interviewtermin noch wahrnehmen konnte. Also einigten wir uns auf sein Tempo, das uns langsam aber teuer doch noch ans Ziel brachte.
Vor den Tonaufnahmen bei einer Tasse Tee und (es reichte gottlob doch noch für den ganzen Abend) einem Joint erzählte er uns überraschend klar, geordnet und zum ersten mal überhaupt, biographisches zu seiner Person.
Dieses soll jedoch, so ich denn Charlys Eltern zu einem Interview bewegen kann, Gegenstand des aktuellen Films "Heilig Heil" sein und ich möchte dem an dieser Stelle nicht zu weit vorgreifen.
Am Ende bedauerte ich jedenfalls nicht wirklich, dass er sich weigerte, irgend etwas davon auf Band aufnehmen zu lassen. Zu weit verbreitet ist die Unsitte, mit psychologischen Kenntnissen auf Ratgeberkolumnen-Niveau und ein paar biographischen Details a la "zerrüttetes Elternhaus" jedes Schicksal binnen weniger Sekunden abzuurteilen und in einer Stereotypen-Schublade verschwinden zu lassen, nur um sich ja nicht wirklich damit konfrontieren zu müssen.
Das Interview verlief ähnlich dem Dreh: Er bestimmte, wann wir die Aufnahme starteten und wann wir sie beendeten. In der Zeit dazwischen setzte er meist einen gekünstelt schelmischen Tonfall auf und verstieg sich in astronomische Satzgebilde, von denen er nur die wenigsten zu einem sinnvollen Abschluss brachte. Als gute Idee erwies es sich, dass wir ihm das Rohmaterial vorführten, das wir in chronologischer Reihenfolge aneinandergefügt hatten. Bald fing er an, den laufenden Film zu kommentieren. dann wieder ließ er uns stoppen, um einen Geistesblitz der meist nicht sinnvoll enden wollenden Art zum Besten zu geben. Er warf uns, vor wichtige Szenen aus dem Material herausgeschnitten zu haben:
Eine Szene in der er einen Pflummi auf ein Kopfsteinpflaster wirft, der nach einigem Zick Zack wieder zu ihm zurückspringt, setzte angeblich zu spät ein. Doch sei es gerade dieser Trick, der ihm den Weg zu einer Artisten- Karriere ebnen würde. Unsere Beteuerungen, mehr als dieses Material gebe es nun mal nicht, ließ er nicht gelten und machte ganz deutlich, dass er ohne diese Szene dem gesamten Film sein Veto erteilen würde.
Wie die Bilder für sich genommen, so hätten auch die Statements allein nicht wirklich etwas über Charly und Heidi erzählt.
Legte man jedoch beide Ebenen übereinander, so gewann nicht etwa Charlys flockige Fassade an Glaubwürdigkeit, die er dem Zuschauer vorzuführen versuchte, vielmehr taten sich kleine Ritzen und Spalten aus Ungereimtheiten und Wiedersprüchen zwischen Bild und Kommentar auf, durch die sich dem aufmerksamen Zuschauer für kurze Momente Einblick in die Abgründe ängstlich gehüteter Geheimnisse erschließen konnten. Allein eindeutige Antworten gab es nicht im Angebot.
Während das Filmmaterial auf Beta Sp abgetastet wurde, erarbeiteten wir das Konzept für den Schnitt. Wir konnten die Medienzentrale des Erzbistum Köln mit dem Schlagwort "sozial augagiertes Projekt" für uns gewinnen und sie stellten uns ihren D9 (Panasonic) Drei-Maschinen Schnittplatz zur Verfügung. Da wir also linear arbeiten würden, wollten wir gut vorbereitet sein. Wir fertigten für alle in Frage kommenden Bilder und Töne(Statements) Karteikärtchen an. Diese klebten wir in der gewünschten Reihenfolge auf ein 10Meter langes Absperrband (rot/weiß für Baustellen) und vertauschten einzelne Bilder- und Tonkärtchen so lange, bis "der Film" fertig war.
So präpariert, hofften wir auf nicht mehr als 10 Tage Arbeit - es wurden 6 Wochen.
Am Drehtag waren wir ausgerüstet mit einer Beaulieu-Kamera einer Bauer und, mehr so zum Ausprobieren, irgend einer klobigen Revue-Kamera. Als erstes, nach nur wenigen cm. Film, gab die Beaulieu den Geist auf. Somit hatte sich auch das Thema Synchronton erledigt. Unser Tonmann war ein Freund des Kölner Karnevals, wir rechneten es ihm hoch an, dass er, anstatt zu feiern, 16 Stunden lang das Nagra- Tonbandgerät mit sich herumschleppte. Auf der anderen Seite hätte sich ein nichtkarnevalistischer Tonmann wahrscheinlich besser auf seine Aufgabe konzentrieren können (Ich hoffe, ich drücke mich fair aus).
Jedenfalls war der Ton nicht nur asynchron, er war auch halbherzig aufgenommen und, vor allem was Atmos angeht, unvollständig. Allein die Tatsache, dass der Schnittplatz mit einem externen PC-Tonprogramm synchronisiert war, rettete uns.
Charly und Heidi meldeten sich nicht mehr bei uns. Das war uns auch ganz recht. Sie 12 Stunden am Tag vorwärts und rückwärts via Lautsprechern und Mattscheibe zu erleben, deckte unseren Bedarf gründlich.
Erst als wir fertig waren und uns einige Wochen erholt hatten, machte mich ihre Abwesenheit stutzig und ich suchte ihre Wohnung auf. Von außen sah ich durch die Fenster in ihre Zimmer: Sie waren komplett leer geräumt. Ein Nachbar erzählte, Heidi sei von einem Polizeikommando mitgenommen worden, wahrscheinlich in die Psychiatrie.
Seitdem sei auch Charly verschwunden. Vor kurzem sei dann ein Müllwagen vorgefahren und Männer in Schutzkleidung und Atemschutzmasken haben die Wohnung leer geschaufelt. Ich recherchierte beim Wohnungsamt. Unter "vorgehaltener Waffe" (ich recherchiere fürs Fernsehen, bla,bla...) bestätigte man mir die Einweisung Heidis auf Initiative ihrer Betreuerin ins Klinikum Mehrheim. Dort nachgefragt hieß es, Heidi sei schon längst wieder entlassen worden.
Es dauerte weitere zwei Monate, ehe wir Charly und Heidi wieder fanden, obdachlos. Es begannen die Dreharbeiten zu "Der Mützefluch".

© 2016 Sascha Bruhn